Eine überzeugte Schauspielerin (Valérie Dréville) in der nicht einfachen Rolle der großen Medea. TNS, im Mai 2017. Foto Jean-Louis Fernandez.

Analyse. Recherchiert von Petra Raguz.

Medea ist eine gefährliche Frau! Das wissen wenige. Nicht alle kennen diese Dame. Sie taucht das erste Mal 431 v. Chr. in einer Heldensage auf – griechisch-römischen Ursprungs – und begeistert bis heute die Theaterwelt. Insbesondere die Dramaturgen. Das Thema bietet sich bestens zur Reflexion an. Im Straßburger Nationaltheater(TNS) wurde vom 29.04.-14.05.2017, ihre Geschichte, Medeamaterial([1]Médée-Matériau), Text Heiner Müller, Regie Anatoli Vassiliev, in der Rolle der Medea, Valérie Dréville, gespielt. Was hat diese Frau an sich, dass sie im Theater, im Film, in der Literatur, in der Malerei, immer wieder als Thema aufgegriffen wird? Ist es die Faszination der Gewalt, die Evidenz der Skrupellosigkeit, mit der sie Grausamkeit ausführte?

HEINER MÜLLER – DER AUTOR

[2] Textvorlage ist Medeamaterial von Heiner Müller(H.M.)(1929-1995). Er war von der Geschichte Medea‘ sicherlich beeindruckt, um den klassischen Stoff zu bearbeiten. Wobei ihn mehr die verhängnisvolle Situation Jason'(Medea‘ Ehemann, Kolonisator und Argonautenführer) interessierte – die Beziehung Meister(Kolonisator)/Schüler(Kolonie). Die Kolonie verselbstständigt sich, bekommt Macht, behält oder verliert diese. Alles ist immer von neuem eine Machtfrage, die abhängig ist von vielen Faktoren. H.M. erwähnt in diesem Kontext den europäischen Kontinent(Europa)und dessen « künftiges Ende » – obgleich eine territoriale Vision – diese jetzt mit dem Brexit korrespondiert. Desweiteren, betrachtet er die Begriffe Verrat und Revolution, die meistens mit dem Tod bestraft werden. Vielleicht ist das der Blick auf die Medea-Figur, als eine tragende Symbolfigur für Rache([3]Gebot 5: Du sollst nicht töten) und die primitivste Form einer Abrechnung. In diesem Zusammenhang deutet er auf die Kunst, als ein Vektor der Nostalgie, die etwas anderes aussagt als Hass und Gewalt. Vielleicht eine Reue? Damit unterstreicht er die Aufgabe des Theaters: Die Welt in Frage zu stellen. So kann denn Medea hoffentlich weiterhin späte Reue initiieren!

[4]Heiner Müller, geboren in Eppendorf war ein deutscher Dichter und Dramaturg. Überwiegend produzierte er in der DDR von 1949-1989. Zuerst als Journalist, dann Bibliothekar; später als Redakteur für die Revue Junge Kunst. Ab 1957, beginnt er mit Texten und Regie für das Maxime Gorki Theater in Ostberlin. Erstes erfolgreiches Stück(Der Lohndrücker 1958); es folgt eine schwierige Zeit(1961-1972); er ist aber weiter literarisch tätig(Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande; Philoktet; Mauser). 1972 wird er von Ruth Berghaus als Dramaturg am Berliner Ensemble engagiert(Aufführung Zement). Es folgt ein Aufenthalt in Amerika, Texas 1976-77. Danach schreibt er die Stücke Das Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei; Hamletmaschine; welche in der DDR verboten bleiben; und Der Auftrag; Quartett; Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaften mit Argonauten. Die Situation in der DDR ändert sich für ihn erst 1980. Währenddessen erreicht er Bekanntheitsgrad in Frankreich: seine Texte werden im Pariser Verlag Editions Minuit verlegt; Hamletmaschine und Mauser von französischen Regisseuren aufgeführt. H.M. wird Mitglied der Akademie der Berliner Künste(1984) und Präsident(1990). Es kommt zu Aufführungen seiner Stücke im Deutschen Theater. 1992 wird er Beirat im Berliner Ensemble. Die Wiedervereinigung Deutschlands(1989) bringt ihm seinen Durchbruch und die Anerkennung. Jedoch wieder, in seinen letzten Lebensjahren, bekommt er Probleme mit der Politik und Obrigkeit. Er wird der Zusammenarbeit mit der Stasi beschuldigt. Das lässt er nicht ungeschehen und veröffentlicht die Stasi Dokumente ihn betreffend. Die sich auf falsche Gerüchte beziehenden Beschuldigungen verstummen. In den letzten Lebensjahren inszeniert er sein Stück Quartett, Arturo Ui(v.Brecht),Tristan und Isolde(v.Wagner in Bayreuth); schreibt Gedichte und beendet seinen letzten Text Germania 3. Gespenster am Toten Mann. Insgesamt schrieb er 40 Theaterstücke. Androgyne wird über Germania 3. Gespenster am Toten Mann – aufgeführt in Strasbourg(1996-97-98), im TNS, mit Regie Jean-Louis Martinelli – in einer nächsten Ausgabe berichten. Am 30.12.1995 stirbt Heiner Müller in Berlin.

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Während den Regiearbeiten zu Médée-Matériaux. Anatoli Vassiliev und Valérie Dréville. Im TNS 2017. Foto Jean-Louis Fernandez.

ANATOLI VASSILIEV – DER REGISSEUR

[5]Anatoli Vassiliev(A.V.) ist russischer Dramaturg und bekannt für abstrakte, metaphysische Inszenierungen. 2017 kam es zur Wiederaufnahme seiner Erstinzenierung Medeamaterial aus dem Jahr 2002. Die Arbeiten Vassiliev’ und Heiner Müller‘ korrespondieren – ergänzen sich. A.V. gibt zu verstehen, dass bei den Proben zu Medeamaterial in Delphi(Griechenland) 2006, er verstanden hat, was der Zuschauer braucht um die Metaphysik(Überbedeutung) des Stückes zu verstehen. Es reicht nicht aus, nur die Theatergeschichte anzuschauen, sondern es ist notwendig, tiefer in den Stoff dieser Lektüre einzutauchen. 

[6]Vor allem aber ist er ein Techniker und Mathematiker. Zu seiner eigenen Theaterentwicklung gehören drei Phasen: die Psychologie; das Spiel und die Sprache. Als Schüler der russischen Theaterschule und des russischen Theaterreformers Konstantin Sergejewitsch Stanislawski(1863-1938) (Psychologie Stanislawski) ist er auf der Hut vor dieser Psychologie; denn diese ist nicht voraussehbar – und keinen strengen Regeln unterworfen. Er unterwirft sich selbst nicht leicht Diktaten, egal welcher Art. Gleichzeitig ist er sich der Gefahr der Nichtunterordnung bewusst. Und verurteilt die Identifikation des Schauspielers mit der Rolle als krankhaft. Im Verlauf der Zeit, ist er ein Genie geworden in der Anwendung „seiner Psychologie“ des Russischen Theaters.

Das Ziel, das er damit verfolgt, ist die Auflösung eines Rätsels in einer abstrakten Welt, die ermöglicht körperliche Grenzen zu überwinden. Der erreichte Zustand ist eine Hinführung zu einer ursprünglichen Idee – vielleicht eine Wahrheit? A.V. vergleicht es mit der Wahrnehmung eines Lichts(inneres Zentrum), dessen Absicht  die Aufklärung ist. Es ist ein grosser Luxus dieses Ziel spielerisch zu erreichen. Nicht zuletzt wird Theater im Volksmund Musentempel genannt. Der Zuschauer erkennt die Distanz zur Wahrheit. Bewusstsein und Unbewusstsein liegen eng nebeneinander. Die Erkenntnis setzt sich wo es sein soll.

Die intensive Arbeit mit der Sprache ist gut erkennbar in seiner Regie Medeamaterial(2017). Es sind tendenziös Urlaute – ähnlich der Gebärdensprache – mit dem Ziel der direkten Verständigung – ohne Galanterie – entsprechend einer rohen treibenden Kraft. Vielleicht vergleichbar mit einem ekstatischen Blick auf einen frisch gerodeten Acker!

[7]Anatoli Vassiliev(geb.1942) in Danilovka, Russland, studierte zuerst Chemie. Wird dann Forscher in einem Chemieinstitut in Sibirien und auf einem Schiff für ozeanische Wissenschaft im Hafen von Vladivostock. Nach ersten Erfahrungen mit dem Theater in seiner Studienzeit, folgt ab 1968 das intensive Studium an der Theaterschule Lounatcharski in Moskau, bei Andreï Popov und Maria Knebel. Ab 1970, in der Zeit des Sovietregimes, hatte er eine Theatertruppe. Es kam zu Aufführungen in Moskau in den Theatern Stanislawski und Taganka. Dann ermöglichte ihm die Perestroika eine Theaterschule(1987) aufzubauen. 2001 zog die Schule in ein neues Gebäude und wurde zu einem Labor(Theaterwerkstatt), in dem A.V. intensive Studien russischer und europäischer Schriften unternahm – die Arbeit des Schauspielers betreffend, in der Anwendung der Stimme, des Körpers, der Theatralik allgemein. Die Schule wurde für viele französische Schauspieler zu einem wichtigen Aufenthaltsort. 2006 kommt es zum Bruch mit der russischen Verwaltungspolitik. Er verlässt die Schule und geht nach Frankreich. Seit 1980, haben ihn regelmäßige Aufführungen in Europa bekannt gemacht. Die Weitergabe seiner Lehre gehört zu seinem Unterricht und ist ein fester Bestandteil seiner Regiearbeit. Über Jahre gehörte seine Schule dem Verein der Theater in Europa an. Er vermittelt für Theaterschulen in Seminaren, Kolloquien; leitete 2004-08, in Lyon(l’ENSATT) den Bereich Regie – Forschung und Ausbildung;  erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise.

Die stolze Medea(Valérie Dréville) bei Beginn der Aufführung. Médée-Matériaux. Text Heiner Müller. Regie Anatoli Vassiliev. TNS, im Juni 2017. Foto Jean-Louis Fernandez.

VALÉRIE DRÉVILLE – DIE SCHAUSPIELERIN

[8] Eines Tages haben sich Valérie Dréville(V.D.) und A.V. getroffen. In Paris, in der Comédie Française. Das gab ihr Kraft, das Lernen wieder aufzunehmen. Damals war sie dreißig Jahre alt. Bal masqué war ihr erstes gemeinsames Theaterstück mit A.V. Das Stück war außergewöhnlich und sie verstand, dass die Begegnung eine Chance war. Bald darauf ging sie nach Moskau zur Teilnahme an A.V.‘ Theaterwerkstätten. Die ersten Aufenthalte waren befristet auf 3 Monate. Danach wiederholten sich ihre Aufenthalte. Sie nahm den Unterschied der anderen Kultur u. Sprache in der russischen Arbeitsweise wahr; bekam ein Stipendium und blieb ein Jahr in Moskau. Unmittelbar danach(2002), kam es in Moskau zur Kreation des Stückes Medeamaterial. Fünf Jahre lang wurde das Stück aufgeführt. Die Arbeit prägte V.D. und den Wunsch einer Wiederaufnahme im Théâtre National Strasbourg(TNS). Ein Übersetzer wurde nicht erwünscht. Sie musste Russisch lernen. Heiner Müller‘ Text wurde auf Französisch geprobt – das ist eine Innovation und unvergleichbar.

Die Theaterwerkstatt

Ist eine Folge der Theaterstudios seit Stanislawski(1938). Es dominieren die Psychologie und das Spiel. In der Psychologie, ist das Aktionszentrum die Psyche des Schauspielers. Im Spiel, ist es die Sprache. Das Spielobjekt ist nach außen gerichtet. Inhaltlich handelte es sich in Medeamaterial um eine Verwandlung(Metamorphose), die durch die Sprache bewirkt wird.

Verbales Training

Im Spiel sind die Worte in Bewegung. Das Wichtigere ist der Klang, nicht der Sinn der Worte. Alles beginnt mit dem Klang (Verbales Training). Trainiert werden gleichzeitig die Klangbewegung und die Betonung. Das Ziel ist es, etwas nicht Materielles zu vermitteln. Die Arbeit mit dem Klang ist der Auslöser dieser Vermittlung. Es beginnt im Sitzen. Mit Hilfe der Bauchatmung wird die Ruhe und Entspannung gesucht. Zuerst wird der gesamte Raum wahrgenommen. Es werden die horizontale und vertikale Achse gebildet, diese nach außen projiziert und auf den Horizont erweitert. Das mentale Zentrum wird vergrößert. Vom tiefsten Inneren zum entferntesten Außenpunkt. Die Klangbewegung beginnt bereits bevor der Laut artikuliert wird. Dann überquert der Laut den Raum mit einer großen Geschwindigkeit. Er wird weniger akustisch wahrgenommen sondern als Energie. Dies ohne große Kraftanstrengung; diese wird durch die Schnelligkeit ersetzt. Der Laut entflieht von alleine(Induktion).

A.V. unterscheidet drei Betonungsarten: die ausdrucksvolle, die erzählerische, die bestätigende. Die Betonung ist ein musikalisches Signal, das eine Information erhält. Dadurch erkennen wir eine Sprache ohne ihre Sprachkenntnis. Die Geschichte Medeamaterial, kann nur mit der bestätigenden Betonung vermittelt werden, deren Verlauf nach unten, in die Erde geht. Es muss aus Fleisch und Blut sein! Sprech-u. Betonungs-Übungen müssen täglich gemacht werden. Der Sprechapparat muss sich daran gewöhnen. Das erst erlaubt die Rolle zu spielen.

Drei Wochen lang haben sich beide getroffen und über den Text im Detail gesprochen. A.V. hat den russischen Text – V.D. den französischen Text – und beide haben den deutschen Text. Die russische Version ist der deutschen Version am Ähnlichsten. Jetzt kam es V.D. zu Gute, die russische Sprache gelernt zu haben – der Text konnte modifiziert werden. Er besteht aus Bildern, Metaphern und Gegensätzen. Einem riesen Energiebündel. Dieses muss entbunden werden, um den Mechanismus(die Macht) herauszufinden. Die eigenen Fantasien anzuregen; und die Bilder zu koordinieren.

Neben gemeinsamen Gesprächen, studierte sie die Mythologie, las die Fassungen Medea von [9]Euripides und [10]Seneca; und war beeindruckt von der [11]Pasolini Version. Die klassischen Medea-Themen, das Exil, die Fremde, die Barbarin, sind zeitgenössische Themen; dazu gehören die Beziehungen Ost-West, Okzident-Orient, Mann-Frau. Bei Heiner Müller ist der politische Ost-West Aspekt ausschlaggebend.

Das Stück baute sich innerhalb zwei Wochen auf. In der ersten Woche der Rhythmus und das verbale Training. In der zweiten Woche die Regie. Entsprechend der russischen Methode, bespricht der Regisseur das Verhalten des Künstlers. Nur der Künstler hat die Verantwortung und stellt die Fragen. Er steht in erster Linie.

Medea auf der Bühne. Im Hintergrund das Meer und die Möwen. Vorne die Kinder. TNS, im Juni 2017. Foto Jean-Louis Fernandez.

Was hat Medea verbrochen?

Die Nacktheit der Schauspielerin ist notwendig, um ihre künftige Verwandlung zu zeigen. Medea ist ihrem Ehemann Jason gefolgt und hat ihr Volk verraten, um ihn zu retten. Sie tötete ihren Bruder. Das ging solange gut bis er sie verraten hat. Dann wird sie von ihm weggejagt und von König Kreon ins Exil geschickt. Das ist für Medea ein schweres Schicksal. Wie das überwinden? Wie sich daraus befreien? Um die befreiende Aktion(Ritual1 und Ritual2) auf sich selbst auszuführen, muss Medea die Person wieder werden, die sie vor ihrer Ehe mit Jason war. Sie muss ihre magischen Kräfte wiederfinden. Das schafft sie, in dem sie der neuen Braut ihres Mannes, ein Verlobungskleid(Rituelles Kleid) schenkt. Das Kleid ist die zweite Haut Medea‘ und verwandelt die neue Braut in eine brennende Hochzeitsfackel. Sie verbrennt im Feuer(Ritual1). Das Ritual2 ist die Opferung der eigenen Kinder. Dadurch will Medea die Kinder vor dem Exil bewahren. Sie erlaubt nicht, dass das Exil die neue Heimat der Kinder wird.

Der entscheidende Augenblick ist, in dem die Schauspielerin die Bühne betritt. Es ist der Beginn der Verwandlung, die mit der Opferung der Kinder endet. V.D. ist Medea und bleibt diese bis zum Schluss. Die Aufführung ist für sie eine neue Erfahrung, besonders das verbale Training. Bemerkenswert ist, dass es keinen großen Unterschied zwischen Proben und Aufführungen gibt. Die Aufführung ist der Test des Gelernten. Dabei denkt sie an Vassiliev‘ Worte: « Spiele so wie wenn du proben würdest – dann klappt es! »

[1] Heiner Müller, Médée Matériau(1982), Übersetzung Jean Jourheuil und Heinz Schwartzinger, Les Éditions de Minuit, 1985.

[2] Aus Gespräch Heiner Müller mit Urs Jenny und Helimuth Karasek, in Der Spiegel 1988.

[3] Aus Die Bibel. Die zehn Gebote.

[4] Aus Archiv Théâtre National Strasbourg(TNS).

[5] Aus Archiv TNS. Anatoli Vassiliev, «Médée-Matériau, la nouvelle dimension de la tragédie antique», April 2017.

[6] Aus Natacha Isaeva, «Anatoli Vassiliev, des jeux périlleux dans un espace limpide», Artikel erschienen in der  Revue Europe n°924, April 2006.

[7] Aus Archiv TNS.

[8] Aus Gespräch Valérie Dréville mit Fanny Mentré am 6 April 2016 im TNS.

[9] Euripides, Medea (431 v.Ch.).

[10] Seneca, Medea (60n.Ch.).

[11] Pier Paolo Pasolini, Film, Medea (1969).

 

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