Über das Schauspiel
Phädra von Seneca ist ein Trauerspiel. Im Prolog, Hippolytos, der Königssohn, hat im verlassenen Palast seines Vaters Theseus, König von Athen, seine wilden Träume; ist dort eingesperrt und erzürnt sich. Seine Stiefmutter Phädra hat das gleiche Schicksal, auch sie ist eingesperrt im Palast. Deshalb teilt sie seine Idee der Flucht. Die Frauengestalt der Phädra ist hier radikaler; travestiert als Amazone. Von Leidenschaft getrieben, bietet sie Hippolytos den Thron an. Hippolytos verspürt für Phädra eine innere Leidenschaft in sich wachsen. Wehrt sich dagegen und flüchtet. Der König Theseus kommt nach 4 Jahren Abwesenheit zurück, und findet den Ort vom Chaos getrieben vor. Er will Rache, ruft seinen Vater Neptun um Hilfe.
Zum Autor Seneca
Seneca lebte (*4 v.Chr.-68† n.Chr.) und wurde in Corduba(Spanien, Römisches Reich) geboren. Er war Dramaturg und römischer Staatsmann. 31 Jahre alt, wird er Berater am Kaiserhof bei Caligula(*12-41† n.Chr.). 50 Jahre alt, wurde er Steuereintreiber; dann Lehrer bei Kaiser Nero(*38-68† n.Chr.) und schrieb dessen Reden. Einflussreich, ist er beteiligt an Intrigen seiner Zeit; er streitete sich mit Nero; 65 Jahre alt, begeht er Selbstmord. Zu den Veröffentlichungen des Philosophen gehören, u.a. Über die Wut; Über die Kürze des Lebens; 124 moralische Briefe an Lucilius. Seine tragischen Texte sind bis heute überliefert, u.a. Phädra, Thyestes, sind Lateinisches Theater und haben besonders das klassische französische Theater beeinflusst.
Zur Regisseurin Louise Vignaud
Im Louis-le Grand Gymnasium, in Paris, das vor ihr auch die wichtigen französischen Theatermacher Patrice Chéreau und Jean-Pierre Vincent besuchten, begann Louise Vignaud mit dem Theater. Wie ihre Vorgänger, nahm sie teil im Club Théâtre; und kreierte einmal im Jahr ein Theaterstück, so auch Lorenzaccio von Alfred de Musset. An der Ecole normale supérieure de la rue d’Ulm, schreibt sie das Mémoire Roger Planchon et la lecture des classiques. Un parcours et ses étapes. Parallel dazu, arbeitet sie im Institut national de l’audiovisuel(INA) über die Kollektion Mémoires du théâtre und lernt Schauspiel an der École de Thibault de Montalembert; ab 2011 besucht sie das Ensatt (École National Supérieure des Arts et Techniques du Théâtre). 2014, erhält Sie das Diplom der École normale supérieure de la rue d’Ulm ; und wird Assistentin in der Regie bei Christian Schiaretti, Michel Raskine, Claudia Stavisky, Richard Brunel und Michael Delaunoy. Im gleichen Jahr, gründet sie die Compagnie la Résolue, und inszeniert Calderón von Pier Paolo Pasolini, La nuit juste avant les forêts von Bernard-Marie Koltes; Ton tendre silence me violente plus que tout von Joséphine Chaffin, Tigre fantôme von Romain Nicolas, Tailleur pour dames von Georges Feydeau, Vadim à la dérive von Adrien Cornaggia, und im Januar 2018, Le Misanthrope von Molière im Théâtre National Populaire(TNP) in Villeurbanne. Seit 2017, ist sie beteiligt im Cercle de formation et de transmission (TNP) und leitet das Théâtre des Clochards célestes in Lyon; dort präsentierte sie im Mai 2018, Le Quai de Quistreham(eine Adaptation des Romans von Florence Aubenas).
*(1) Seneca wiederentdecken – ein Theater der Konfrontation
*(1) Originaltext: Louise, Vignaud: (Re)Découvrir Sénèque: Un théâtre de la confrontation, in: programme Phèdre(17/18), mise en scène Louise Vignaud 29mars-13mai 2018, S. 10-13; Comédie-Française. Réalisation du programme l’avant-scène théâtre. Die Regisseurin, bespricht ihr Schauspiel Phädra von Seneca als ein nicht fremdes Stück, das in die aktuelle Zeit passt. Und hat die Besucher eingeladen in das Theater der Comédie-Française, mitten in Paris, zur Geschichte der antiken Phädra – die sich unterscheidet zur berühmten Phädra des griechischen Dramaturgen Euripides(*485/484 v.Chr. – 406† v.Chr.). Die Sprache von Seneca ist rau. Es gibt drei Phädratexte, von Seneca, Euripides und dem französischen Dichter Jean Racine(1639-1699). In Seneca‘ Phädra ist durch die Pantomime der Körper stark eingebunden. Die Geschichte ist einfacher als bei Jean Racine. Seneca will starke Konfrontation, unstimmige Lebensentscheidungen, Entscheidungszwang und Lebensverpflichtung; seine Personencharakteren sind übertrieben.
Das Leben: ein Schrei.
Zwei Welten.
Phädra und Hippolytos sind in ihrer Welt Fremde geworden. Die Situationshärte entzieht ihnen jegliches natürliches Gefühl. Die Tragödie ist ein verzweifelter Versuch Herr der verwirrten Situation zu werden, die sie selbst nicht verschuldet haben. Diese emotionale Abhängigkeit, verbildlicht die kranke Struktur der Gesellschaft – damals wie heute – obwohl zweitausend Jahre dazwischen liegen. Es zeigt sich eine Wirklichkeit, die heute verdrängt wird: dass das Trauerspiel die Aufgabe hat, dem Menschen zu helfen, Leid zu erkennen und zu verstehen. Emotionale Co-Existenzen sind die Regel – die Verwirrungen sind groß und oft unüberbrückbar.
Eintauchen in die Nacht
Obwohl die Nacht einen Urzustand verkörpert, aus dem Neues geschöpft werden kann, hat die Nacht hier diese Urfunktion nicht: sie ist zerstört durch den Befreiungswahn. Die Nacht ist hier leblos und fatal.
Die Regisseurin Louise Vignaud spricht auch von einem Aquarium, in dem die zwei, Phädra und Hippolytos, auftreten. Sie geben gewisse Impulse an die Welt nach draußen. Der Chor, zum Teil, sich im Publikum befindend, lädt die Zuschauer zum Anhören dieser Geschichte ein. Jedoch ist die zu tragisch. Phädra(begeht Selbstmord) und Hippolytos(wird von einem Seemonster getötet) verkörpern eine Welt, die täglich stirbt. Die Königsrückkehr ist das Ende der Geschichte. Eine Situation vieler gegensätzlicher Strömungen, die aufeinandertreffen.
*(2) Phädra von Seneca – eine Tragik-Pantomime?
Die antike Tragik, zum gemeinsamen Weinen
*(2) Originaltext: Florence, Dupont: Phèdre de Sénèque, une Tragi-Pantomime?, in: programme Phèdre(17/18), mise en scène Louise Vignaud 29mars-13mai 2018, S. 24-27; Comédie-Française. Réalisation du programme l’avant-scène théâtre. Florence Dupont hat den lateinischen Text von Seneca übersetzt. Erstaunlich modern. Die Übersetzung bringt Fülle in den Urtext. Verbindet den Mythus und die Körper, Leid und Gewalt, rigoros zeitlos. Das lateinische Theater will insofern keine Unterhaltung sein, sondern vielmehr eine Therapie; die viele Gefühle zeigt und diese sublimiert. Die Sublimation der Gefühle gelingt durch die Umkehrung. Die Umkehrung kann nur durch die Erkenntnis kommen. Das ist der ständige Lernprozess des Menschen, der von Natur aus Gefühle besitzt. Ein Gefühl zu beschreiben ist schwer. Es ist irrational, unvernünftig, wild, nicht greifbar; es tritt häufig unbewußt auf, daher unbändig, – die Zähmung gelingt erst nach eigener Erkenntnis. Das lateinische Theater ist ein menschlicher natürlicher Lernprozess. Die Bewältigung einer Traurigkeit.
Das Klingen der Gefühle
Es ging im römischen Theater nur um Gefühle, ohne Identifizierung mit der Person. Die Schauspieler auf der Bühne veräußerten in jeder Szene unterschiedliche Gefühle; Schmerz, Leidenschaft, Unsicherheit, Lüge, Wut. Die tragende Rolle hat die Stimme; sie setzt den Akzent. Die Tragödie ist die Aneinanderreihung mehrerer Szenen mit einer Hauptstimmung. Die verwendeten Masken sagen nichts über die Einzelidentität aus, sondern präsentieren nur die jeweilige Rolle der Schauspieler: z.B. König, Königin, Prinz, Erzieherin. Die Schauspieler spielten nicht mit ihrem Körper, sondern standen auf Sockeln, ummantelt von langen Kleidern; den Kopf hinter einer Maske, mit einer Perücke, versteckt. Sie konzentrierten sich besonders auf die Stimme, dass diese in den großen römischen Theatern gut gehört wurde.
Hippolytos der gejagte Jäger
In der damaligen Zeit, existierte eine andere wichtige Kunst: die Pantomime; die von Kaiser Augustus (*63v.Chr.-14†n.Chr.) in Rom erfunden wurde, und mit großem Erfolg die Tragödie verdrängte. Dabei wird der Inhalt von einem Pantomimen getanzt; und der Text von einem Chor mit Flötenmusik gesungen. Die Texte(das Livret) sind lyrische oder epische Poesie in Versform. Die Kunst des Pantomimen, besteht in der Hauptsache darin, stumm, mit Körperausdruck zu tanzen. Das war von Vorteil für die Zuschauer, die weder Griechisch noch Lateinisch sprachen; und deshalb dem Schauspiel mühelos folgen konnten. Daraus folgte, dass die Pantomimen ein hohes Ansehen genossen und beim Publikum sehr beliebt waren. Es ist nicht auszuschließen, dass der Prolog der Phädra ein Livret war – und so von einem Pantomimen getanzt werden könnte. Hingegen ist Hippolytos Text ein Sortiment aus Wildheit, Waffen, Jagdtechniken, Hunde-u. Wildschweinjagdtechniken. In der Antike, war die Jagd eine Metapher der Liebesverfolgung; und die wilde Tollerei, das fröhliche Treiben freier Triebe. Es ist eindeutig, dass das erotische Liebesverhalten des jungen Hippolytos auf der Bühne gezeigt wird; es erweckt Phädra‘ Neigungen; und auch die Wünsche des Publikums. Schließlich jagt Phädra erfolglos Hippolytos; der dann von einem noch wilderen Meeresmonster zu Tode gejagt wird.
Phädra oder Seneca vergessen?
Lateinisches Theater wird selten in der Comédie-Française gespielt. Die Geschichte der Phädra ist zu einer klassischen französischen Lektüre geworden, bedingt durch den berühmten französischen Dichter Jean Racine, der die griechische Fabel von Euripides als Neufassung zu seinem Vorteil geschrieben hat. Seneca bleibt jedoch ein Beispiel, was die moderne Zeit aus Mythen macht. U.a. werden Charaktere an die zeitgenössische Dramaturgie angepasst. Wegweisend soll der Hinweis von Jean Racine im Vorwort zu seiner Phädra sein, dass es wünschenswert wäre, wenn unsere Werke genauso starke und anspruchsvolle Ratschläge erteilen wie die Dichter vor uns; und der Franzose Jean Racine die unterschiedlichen beschriebenen Charaktere der Phädra bei Euripides: verbittert, keusch, stolz, passiv; und der Phädra bei Seneca: wütend, erregt und schuldig, versucht zu verbinden; aber die Ur-Fassung Euripides‘ bevorzugt. Deshalb wurde Senecas Phädra mit Erfolg lange Zeit verdrängt.
Phädra: Jennifer Decker in der Titelrolle
In ihrer Zeit im Viry-Châtillon Gymnasium(nur einige Kilometer von Paris entfernt), trifft sie Pierre Notte, Autor und Regisseur, und Irina Brook. Daraus entsprang Jennifer Decker‘ Theaterkarriere. Irina Brook gab ihr 2001 die Rolle der Juliette in Juliette et Roméo, im Nationaltheater Chaillot; ab 2003 spielte sie in mehreren Fernsehfilmen(Les Amants naufragés; Les Amants du Flore; Mange). Es folgen Kinofilme(Flyboys, Jeune homme, Hellphone, Lulu und Jimi, qu’Erreur de la banque en votre faveur)…und ein nahtloser Übergang zum Theater in 2008…mit Louis Jouvet – Romain Gary 1946-1951 im Théâtre Vidy-Lausanne; dann 2009 Les Couteaux dans le dos, les ailes dans la gueule im Théâtre des Déchargeurs in Paris; und Novembre ein Text von Manon Heugel.
Seit September 2011 spielt Jennifer Decker in der Pariser Comédie-Française. In klassischen Stücken der Schriftsteller Molière, Eugène Labiche, Jean Anouilh, Marivaux, Edward Bond, Victor Hugo, Jean Racine, Shakespeare; und in zeitgenössischen Stücke u.a. von Pascal Rambert, Jean-Luc Lagarce. In der Geschichte der berühmten Phädra, spielte sie die Rolle der Aricie(Hippolytos Geliebte) in Jean Racine‘ Phädra; in Seneca‘ Phädra spielte sie endlich 2018 die Titelrolle der Phädra (Hippolytos Stiefmutter, die sich in ihren Stiefsohn verliebt). In der aktuellen Saison 2018/2019 spielt sie in der Comédie-Française in Stücken von Marivaux(L’Heureux Stratagème) und Fellini(Le Voyage de G. Mastorna).
ANALYSE. Ihre fast zwanzigjährige Schauspielerfahrung haben Jennifer Decker reifen lassen für die Inanspruchnahme der Titelrolle in Seneca‘ Phädra. Eine der wichtigsten Rollen der Theatergeschichte, aber nicht die einfachste; mit dem Auftrag, einen sittlichen Wert – die Tugendhaftigkeit – zu vermitteln, in der Zeit gereist von 450 v.Chr. bis heute – zwei tausend Jahre lang. Jedoch ist die Tugend – immer wieder in Gefahr – genießt keinen wirklichen Schutz – sondern muss täglich neu erobert werden.
DAS VORBILD Phädra‘ Rolle. Sie zeugt vom weiblichen Mut gegen Unfreiheit. Sich die Entwicklung in den vergangenen zweitausendfünfhundert Jahren aus dem Verhältnis Unfreiheit und Freiheit gebildet hat; heute nicht abgeschlossen ist – und auch die Zukunft bestimmt. Denn der Mensch allein lebt nicht nur durch seine Gesetze(unfreiwillige Unterordnung), sondern in der Hauptsache von seinen Gefühlen – übertrieben göttlich – die meistens ärgerlich sind und Bändigung benötigen. Der sittliche Kerngedanke in der Phädra misst sich an seinen großen Vorbildern der Vergangenheit; und daran wie viel gesellschaftliche und emotionale Last in Zukunft getragen werden muss, um vorbildlich zu sein. Recherchiert PETRA RAGUZ.
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