Anatoli Vassiliev und Valérie Dréville bei den Proben im TNS, April 2017. FOTO:Jean-Louis Fernandez.
in liebe medea
Médée-Materiau – gespielt 29.04.-14.05.2017 – im Théâtre National Strasbourg (TNS); Text Heiner Müller(Édition de Minuit, Frankreich), deutscher Autor u. Theaterdramaturg; Regie Anatoli Vassiliev, russischer Theaterdramaturg; und Valérie Dréville, französische Schauspielerin, in der Rolle der unaufhaltsam grausamen Medea; eine griechische, römische Sagengestalt; Zauberin und Gattin des Argonautenführers Jason.
Wie alle Texte Heiner Müller'(1929-1995), ist auch dieser Theatertext sehr gewagt; rigoros in der Berichterstattung, um die es geht. Es wird ein mörderisches Ritual vollzogen. Die Verwendung der Begrifflichkeit mörderisch soll vermieden werden. Im Kontext ist es eine Opferung. Es werden u.a. zwei Kinder geopfert. Kein leichtes Material zu verdauen. Die Geschichte, ein Mythos(Heldensage), kommt aus der Vorchristuszeit (erstmals von Euripides 431 v.Chr.); derartige Rituale gibt es heute nicht mehr. Es sei denn die Täter werden in der Psychiatrie behandelt. Deshalb sind solche Momente auf der Bühne eine Besonderheit. Die Thematik ist nicht neu (folgend Seneca 60 n.Chr.), und wurde seit der Entstehung(431v.Chr.) von unterschiedlichen Autoren verschiedener Zeitepochen (1553; 1898; 1946; 1982 v. Heiner Müller; 1977; 1992; 2001; 2003; 2011) aufgegriffen, neu interpretiert u. reflektiert. Ob zum Guten oder Schlechten, für oder wider: diese Kritik verbleibt dem Zuschauer. In der Regie von Anatoli Vassiliev (geb.1942), ist diese bestens zugeschnitten auf Heiner Müller’ Text; beide Autoren sind Avantgarde – Text und Dramaturgie sind Ektase – in Vassiliev’ Arbeit eng miteinander verschlungen. Während der Spielzeit, eine Stunde und fünfzehn Minuten, werden starke Nerven benötigt – der Text hat einen rauen Ton – entsprechend Vassiliev’ persönlicher Theaterpädagogik-u. Didaktik. Er setzt eine innovative Atmung (training verbal) ein – (ab 1987 Gründung einer Theaterschule in Moskau) – um einen gezielten Effekt zu erreichen. Die Besonderheit der Sprache in dieser Dramaturgie lässt das Gesprochene archaisch wirken – Urlaute, die regelrecht durch den Leib aus dem Mund gestoßen werden. Zur Verwirklichung der Inszenierung bedurfte es aber auch der Schauspielkunst Valérie Dréville’ und ihrem außergewöhnlichen Willen durch zahlreiche Aufenthalte in Moskau, diese archaische Atemtechnik(Vassiliev’ Lehre) und die russische Sprache zu erlernen. Im Verlauf des Rituals auf der Bühne, findet eine Abstoßung, Befreiung: eine Reinigung statt. Es ist aber kein friedlicher Reinigungsprozess, sondern während der gesamten Spielzeit verlieren die zwei Rituale nichts von ihrer sehr abschreckenden Funktion. In Wirklichkeit ist es eine furchtbare Tat. Nicht wieder gut zu machen – Medea tötet aus Rache. Jason ihr Ehemann wird sie verlassen, um Glauke, die Tochter des Königs Kreon zu heiraten. Diesen Verrat lässt Medea nicht ungeschehen und wird die Königstochter und den König durch ein Feuer töten(Ritual1). Und danach ihre zwei Kinder von Jason erdolchen(Ritual2), um sie vor dem Exil zu bewahren. Ihre Rachsucht ist die pragmatische Folge ihrer bedingungslosen Liebe zu Jason. Medea wird aus Liebe zur Rächerin. Im mythologischen Kontext weitergesprochen, erobert sie dadurch ihre Jungfräulichkeit zurück – wird aber anschließend zu einem hybriden geschlechtslosen Wesen – äußerlich weiblich – innerlich gereinigt. Das Reinigungsritual initiiert die Katharsis. Die hellenistische barbarische Tat lebt in der Mythologie; und zeigt den schweren, widersprüchlichen Weg der Weltseele, zu einer Harmonie zu gelangen; ob diese Demokratie oder Tyrannei ist, bleibt weiter abzusehen.
Weitere Mitwirkende: Natalia Isaeva, Vladimir Kovalchuk, Alexandre Shaposhnikov, Vadim Andreev, Hélène Bensoussan, Andrei Zatchesov, Ilya Kozin;
Médée-Matériau, auf Tournée 24.05.-03.06.2017, im Théâtre des Bouffes du Nord, Paris. http://www.bouffesdunord.com/