Frankreich 1728.(Von Oscar Heinke)Hinter dem Erzählenden-Ich der fiktiven Marianne, welche ihr Leben auf autobiographische Art revuepassieren lässt, versteckt sich kein anderer als Pierre Carlet de Marivaux. Ein Mann des 18ten Jahrhunderts, der in Das Leben der Marianne die Geschichte einer emanzipierten Frau erzählt.

Im vorliegenden Ausschnitt setzt sich die junge Marianne mit Monsieur de Climal, ihrem Wohltäter, auseinander. Dieser macht ihr ungewollte Avancen doch sein Neffe Valville, in den Marianne verliebt ist, überrascht sie und verlässt rasch den Raum. Marianne ist überzeugt, dass ihr Geliebter sie nun für die Maitresse des Onkels hält.

Passend beginnt der Ausschnitt mit einem vehementen „Nein“. Getragen von Ausrufezeichen und Imperativen fordert das junge Mädchen den ungewollten Liebhaber auf, ihren Namen rein zu waschen und dem Neffen ihre Unschuld zu erklären. Wenn auch Mariannes sozio-ökonomische Lage vollkommen von Monsieur de Climal anhängig ist, so haben ihre Ehre, ihre „Unschuld“, ihr „Ruf“ Vorrang.

Der wohlhabende und mächtige de Climal verweist Marianne zurück an ihren Platzt. Als „undankbare Göre“ beschimpft er sie. Der Subtext ist klar: Nach all dem, was er Marianne gegeben und für sie gemacht habe, schulde sie ihm ihre Zuneigung.

Doch Marianne lässt sich nicht von ihm einschüchtern und besteht weiterhin darauf, dem Neffen Valville ihre Unschuld zu erklären. Falls Monsieur de Climal sich weiterhin weigern sollte, so verspricht Marianne es selbst in die Hand zu nehmen, und direkt mit Valville zu sprechen. Als Höhepunkt ihres argumentativen Aufbaus wirkt letzteres beinahe wie eine Drohung.

De Climal, sowie andere männlichen Charaktere des Werkes repräsentieren die patriarchal genormte Gesellschaft des 18ten Jahrhunderts, gegen die Marianne stetig kämpfen muss. Doch Marianne setzt sich nicht nur gegen ihr misogynes Umfeld durch, sondern transzendiert auch soziale Klassenschemen. So widerspricht und droht sie, ein armes Findelkind, dem wohlhabenden und mächtigen Mann mit Adelsprädikat. Im Laufe des Werkes entscheidet sich Marianne immerzu für eine emanzipierte Frauenrolle und wirft damalige Geschlechternormen zurück. Dabei ist ihr das emanzipierte Dasein wichtiger als der soziale Aufstieg oder das finanzielle Besitztum, den die Männer ihr im Austausch für ihre Untergebenheit bieten würden.

Pierre Carlet de MARIVAUX (1688–1763) ist einer der bedeuteten französischen Schriftsteller der 1720ger und 1730ger Jahre. Das Werk Das Leben der Marianne hat er nie vollendet. Nach zehn gedruckten Bänden gibt er auf und widmet sich einem anderen Projekt. Marivaux hatte Jahre zuvor sein gesamtes Vermögen, sowie das seiner Frau in Aktien investiert, deren Wert kurze Zeit später implodierte. So konnte er seine Tochter nur in ein Kloster schicken, da sein Geld für eine damals zur Hochzeit unumgängliche Mitgift nicht reichte.

 

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