PARADOXE(S): Schauspielerinportrait ANNE KESSLER

Anne Kessler und das gewisse Etwas…

Das Format Paradoxe(s) d’acteurs an der Comédie Française, Hochburg der französischen Theaterkultur in Paris, muss man sich wie ein öffentlich gehaltenes Interview eines Schauspielers der Truppe vorstellen. Alle, die die Personen kennen lernen möchten, die sich während der Aufführungen hinter den Figuren der großen Bühnenautoren verbergen, drängen sich in die Reihen des Studio de la Comédie Française, ein kleinerer Saal der Institution im Caroussel des Louvrepalasts. Zu Gast war letzte Woche Anne Kessler.

An diesem Abend spielt sie nur sich selbst. Ohne Schminke also tritt sie auf die Bühne -eine schlanke, in dunklen Farben gekleidete Frau- ohne Inszenierung, ohne Kostüm, ohne Perücke. In Frankreich spricht man von einem „je ne sais quoi“, welches wörtlich, „ich weiß nicht was“ bedeutet. Anne Kessler hat dieses gewisse Etwas, dieses Attribut, welches sie unsichtbar, immateriell und ungreifbar umhüllt und ihr eine seltene Ausstrahlungskraft auf der Bühne verleiht.

Alles oder nichts

Mit großer Bescheidenheit und leidenschaftlichen Blick, erzählt Anne Kessler ihre Liebesgeschichte mit dem Theater. Ihre Ausbildung macht sie, an der École de Théâtre national de Chaillot in Paris, unter Antoine Vitez, einer Schlüsselfigur der französischen Theaterszene des XXten Jahrhunderts. Im Jahr 1989 wird sie in die Truppe der Comédie Française aufgenommen. „Ich hasse Anekdoten“, deklariert sie ernst und dennoch erzählt sie schmeichelnd von ihrer ersten Theateraufführung an der Comédie Française. Sie erinnert sich an die Momente vor dem Bühneneintritt: „Noch nie hatte ich solche Angst gehabt…und es war ja eh das letzte Mal, dass ich spielen würde, am nächsten Tag wollte ich kündigen und Konditorin werden“. Trotz eines Fehltrittes und dem darauffolgenden Fall, mitten auf der Bühne, habe sie, sobald sie vor dem Publikum stand „eine tiefe Ruhe“ empfunden und habe sich gedacht, dass es schon viel besser sei, wenn dort Menschen im Publikum sitzen. Wenn auch der Selbstzweifel und die Angst sie ihr Leben lang begleitet haben, so gibt es für sie seitdem keine Alternative, das Theater ist alles: „Es war entweder Theater oder Theater, es gab keine Wahl, etwas anderes war unmöglich. „

Inspirieren und inspiriert sein

Während ihrer Karriere hat Anne Kessler viele ikonische Rollen gespielt, dabei stechen einige heraus. Vor allem die Rolle der Blanche DuBois in Endstation Sehnsucht von Tennessee Williams, damals von Lee Breuer inszeniert, habe sie gekennzeichnet. „Noch heute bin ich überwältigt, wenn ich an Blanche DuBois denke…etwas ist in mir passiert als ich diese Figur spielte“. So habe sie, in dem Stück, „jeder Satz an eine andere Schauspielerin“, die sie liebte, erinnert, nicht zuletzt an Vivien Leigh oder Marylin Monroe.

Anne Kessler scheint eine ganz besondere Beziehung zu ihren Rollen zu haben so sagt sie, fast ein wenig in ihren Gedanken an die unzähligen Figuren, die sie zum Leben gebracht hat, verloren: „Jede Rolle, die ich spiele, zerreißt mich innerlich.“ Verstehen muss man ihre Aussage doppelt. Einerseits natürlich spielt sie auf die emotionale Last, eine Figur zu spielen, ihr Leben nachzuempfinden, und sich in ihr zu verlieren, an, zugleich aber sieht Kessler das Spiel des Schaustellers als einen verdoppelten Prozess, sprich in zwei geteilt. Als Beispiel führt sie eine Inszenierung des Stücks La double Inconstance von Marivaux an, in der es schien, als erzähle der Schauspieler die Geschichte des Bühnenautors, und zugleich, als erzähle er die Geschichte dieser Inszenierung. Überhaupt hat sie viel zu sagen über Schauspieler, denn „ein Schauspieler, der wirklich spielt, ist umwerfend, unvergesslich, überwältigend“.

In ihrem ersten Interview, im Jahr 1984, behauptete sie keck, dass sie nur Rollen spielen möge, in denen sie die Quelle der Inspiration sei. Diese Idee, hat sie auch in ihren eigenen Vorhaben als Regisseurin begleitet. Die Stücke, die sie inszeniert, mache sie von den Schauspielern abhängig, die sie inspirieren. Dabei muss aber auch gesagt sein, dass Anne Kessler ihre schauspielerische Tätigkeit stark von ihren Inszenierungsunterfangen abgrenzt. Sie vergesse, dass sie Schauspielerin ist, wenn sie als Regisseurin fungiert.

Das Schreiben war mir nie gegeben…

Für die Kunst des Schreibens hat Anne Kessler viel Respekt. „Das Schreiben, war mir nie gegeben“, erklärt sie lachend. Den Genius der großen Bühnenautoren habe sie erst spät und ganz zufällig verstanden. „Erst, als ich eines Abends meinen Text, aus, ich weiß nichtmehr welchem Stück Molieres, vergessen habe ist mir klar geworden, wie sehr sein sprachlicher Genius mir unerreichbar war, denn man kann kein Moliere improvisieren!“. Improvisieren könne das kaum einer, sie erst recht nicht. Überhaupt ein Stück zu schreiben, das könne sie nicht. Daher hat Anne Kessler, über das Theater hinaus, eine andere Kunstform für sich entdeckt: das Zeichnen und die Malerei. Sie zeichnet für ihre Inszenierungen die Bühnenbilder, die sie sich regelmäßig erträume. Zudem ist es seit geraumer Zeit für sie zur Tradition geworden, die Schauspieler in ihren Rollen, sprich im Kostüm, zu zeichnen. So gäbe es in ihrer Umkleidekabine an der Comédie Française keine Fotos an der Wand, nur Zeichnungen und Gemälde. „Ich zeichne immer, ob ich im Theater oder in einem Café sitze. Da ich nicht schreiben kann, drücke ich mich mit meinen Stiften und Pinseln aus“.

Das gewisse Etwas

Kommen wir nochmals auf dieses „Je ne sais quoi“ zurück, welches man augenblicklich bei Anne Kessler erkennt. Es bestimmen kann man nicht. An diesem Abend sitzt auf der Bühne eine Frau, dessen Gesten präzise, dessen Lachen kontrolliert, dessen Blicke gezielt und dennoch alle natürlich sind. Es ist eine Frau, die es gewohnt ist, gesehen zu werden und sich dennoch weder hinter einer Rolle noch einer Maske versteckt. Anne Kessler ist vielleicht eine der wenigen, die trotz des immer zu bedachten Auftritts, authentisch wirken und vor allem authentisch sind. Sie hat dieses gewisse Etwas. An diesem Abend haben die Menschen Anne Kessler gesehen, so wie sie wirklich ist, graziös, lustig, wortgewandt und offen. Anne Kessler ist Malerin. Anne Kessler ist Regisseurin. Anne Kessler ist Schauspielerin. Anne Kessler ist Mensch. Von OSCAR HEINKE

Anne Kessler(Comédie-Française) spielt in Fanny et Alexandre von Ingmar Bergmann, Regie Julie Deliquet,09.02.-16.06.2019; und in L’Hôtel du Libre-Échange von Georges Feydeau, Regie Isabelle Nantry,02.04.-25.07.2019. http://www.comedie-francaise.fr

 

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