Im Urteil(am 25.10.2018) der Kammer(1) in der Sache E.S. gegen Österreich (Beschwerdenummer 38450/12) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig entschieden, dass: keine Verletzung von Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) der Europäischen Menschenrechtskonvention vorlag.

Der Fall betraf die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen der Herabwürdigung religiöser Lehren; sie tätigte Aussagen, die nahe legten, dass Mohammed pädophile Neigungen gehabt habe.

Der Gerichtshof stellte insbesondere fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Aussagen der Beschwerdeführerin in ihrem Kontext ausführlich gewürdigt, sorgfältig ihr Recht auf freie Meinungsäußerung gegen das Recht anderer auf Schutz ihrer religiösen Gefühle abgewägt und das legitime Ziel der Wahrung des religiösen Friedens in Österreich verfolgt hatten. Der Gerichtshof entschied, dass die innerstaatlichen Gerichte wesentliche und hinreichende Gründe für ihre Entscheidung vorgebracht hatten, insbesondere da sie hinsichtlich der strittigen Aussagen die Grenzen einer objektiven Debatte überschritten sahen und sie als beleidigenden Angriff auf den Propheten des Islam einordneten. Sie befanden des Weiteren, dass solche Angriffe imstande seien, Vorurteile zu schüren und den religiösen Frieden in Österreich zu bedrohen.

(1)Gemäß Artikel 43 und 44 der Konvention ist dieses Kammerurteil nicht endgültig. Drei Monate nach dem Datum des Urteils kann jede Partei die Verweisung an die Große Kammer des Gerichtshofes beantragen. Wenn eine solche beantragt wird, prüft ein Ausschuss von fünf Richtern, ob der Fall einer weiteren Prüfung bedarf. In diesem Fall wird die Große Kammer den Fall anhören und eine endgültige Entscheidung erlassen. Wenn der Antrag auf Verweisung abgelehnt wird, wird das Urteil der Kammer mit diesem Datum endgültig. Ist ein Urteil endgültig, wird es dem Ministerrat des Europarates für die Überwachung der Umsetzung/Durchführung übermittelt.

Zusammenfassung des Sachverhalts

Die Beschwerdeführerin, E.S., ist eine österreichische Staatsbürgerin, die 1971 geboren wurde und in Wien (Österreich) lebt.

Im Oktober und November 2009 hielt Frau S. zwei Seminare zum Thema „Grundlagen des Islam“, in denen sie die Ehe zwischen dem Propheten Mohammed und einem sechsjährigen Mädchen namens Aisha, die angeblich vollzogen wurde, als es neun Jahre alt war, ansprach. Unter anderem führte die Beschwerdeführerin aus, Mohammed „hatte nun mal gerne mit Kindern ein bisschen was“ und: „Ein 56-Jähriger und eine 6-Jährige? […] Wie nennen wir das, wenn es nicht Pädophilie ist?“.

Am 15.02.2011 stellte das Landesgericht für Strafsachen Wien fest, dass diese Aussagen implizierten, dass Mohammed pädophile Neigungen gehabt habe. Frau S. wurde wegen der Herabwürdigung religiöser Lehren zu einer Geldstrafe in Höhe von € 480,- und dem Ersatz der Verfahrenskosten verurteilt. Sie legte gegen dieses Urteil Berufung ein, das Oberlandesgericht Wien bestätigte jedoch im Dezember 2011 die Verurteilung und berief sich im Wesentlichen auf die Begründung der ersten Instanz.

Ein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wurde vom Obersten Gerichtshof am 11. Dezember 2013 abgewiesen.

Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofes

Unter Berufung auf Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) rügte Frau S., dass die innerstaatlichen Gerichte es unterlassen hätten, den Kern ihrer strittigen Aussagen unter Berücksichtigung ihrer Meinungsfreiheit zu bewerten. Hätten sie dies getan, würden sie selbige nicht als bloße Werturteile, sondern als auf Tatsachen basierende Werturteile ansehen. Darüber hinaus habe ihre Kritik am Islam im Rahmen einer objektiven und lebhaften Diskussion zu einer öffentlichen Debatte beigetragen und sei nicht darauf ausgerichtet gewesen, den Propheten des Islam zu diffamieren. Zuletzt brachte Frau S. vor, dass religiöse Gruppen auch harsche Kritik tolerieren müssten.

Die Beschwerde wurde am 6. Juni 2012 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht.

Das Urteil, am 25.10.2018,  wurde von einer Kammer mit sieben Richtern gefällt, die sich wie folgt zusammensetzte:

Angelika Nußberger (Deutschland), Präsidentin, André Potocki (Frankreich),

Síofra O’Leary (Irland),

Mārtiņš Mits (Lettland),

Gabriele Kucsko-Stadlmayer (Österreich), Lәtif Hüseynov (Aserbaidschan),

Lado Chanturia (Georgien),

und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin.

Entscheidung des Gerichtshofes

Artikel 10

Der Gerichtshof stellte fest, dass jene, die ihre Religion unter Artikel 9 der europäischen Menschenrechtskonvention ausüben wollen, nicht erwarten können, von jeglicher Kritik ausgenommen zu sein. Vielmehr haben Sie die Ablehnung ihrer religiösen Überzeugungen durch andere zu akzeptieren und zu tolerieren. Nur wenn Äußerungen im Lichte von Artikel 10 die Grenzen einer ablehnenden Kritik überschreiten und jedenfalls wenn sie geeignet sind, zu religiöser Intoleranz zu verleiten, kann ein Staat diese gerechtfertigterweise als mit der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nicht vereinbar erklären und angemessene, einschränkende Maßnahmen treffen.

Des Weiteren erwägte der Gerichtshof, dass der Gegenstand der vorliegenden Rechtssache von besonders sensibler Natur ist und dass die (möglichen) Auswirkungen der strittigen Aussagen zu einem gewissen Grad sowohl von der Situation im jeweiligen Land, als auch vom Zeitpunkt und Kontext, in dem sie getroffen wurden, abhängen. Folglich ist er der Auffassung, dass den innerstaatlichen Behörden im vorliegenden Fall ein weiter Beurteilungsspielraum zukam, da sie besser beurteilen konnten, ob die Aussagen den religiösen Frieden in ihrem Land stören könnten.

Der Gerichtshof führte aus, dass er in seiner Rechtsprechung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen unterscheidet. Er betonte, dass ein Werturteil keinem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Jedoch kann ein Werturteil ohne jeglichen wahren Kern die Grenzen einer kritischen Meinungsäußerung überschreiten.

Der Gerichtshof stellte fest, dass die innerstaatlichen Gerichte nachvollziehbar erläutert hatten, warum sie die Aussagen der Beschwerdeführerin für geeignet hielten, berechtigte Verärgerung hervorzurufen. Insbesondere waren sie nicht auf eine objektive Art und Weise getätigt worden, die einer Debatte von öffentlichem Interesse gedient hätte (z.B. zum Thema Kinderehen), sondern konnten nur so verstanden werden konnten, dass Mohammed der Verehrung nicht würdig sei. Der Gerichtshof stimmte den innerstaatlichen Gerichten zu, dass Frau S. sich dessen bewusst gewesen sein musste, dass ihre Aussagen zum Teil auf unwahren Tatsachen beruhten und geeignet waren, berechtigte Verärgerung bei anderen hervorzurufen. Die nationalen Gerichte befanden, dass Frau S. Pädophilie als die allgemeine sexuelle Präferenz von Mohammed bezeichnete und es versäumt hatte, ihr Publikum auf neutrale Art über den historischen Hintergrund zu informieren, wodurch eine ernsthafte Debatte zu diesem Thema nicht möglich war. Daher sah der Gerichtshof basierend auf einer ausführlichen Prüfung der Aussagen keinen Grund, von der Einordnung der strittigen Aussagen als bloße Werturteile abzuweichen.

Der Gerichtshof schlussfolgerte, dass die innerstaatlichen Gerichte das Recht der Beschwerdeführerin auf Meinungsäußerungsfreiheit sorgfältig mit dem Recht anderer auf Schutz ihrer religiösen Gefühle abgewogen hatten, wodurch der religiösen Frieden in der österreichischen Gesellschaft bewahrt werden sollte.

Die Beschwerdeführerin hatte ferner argumentiert, dass ein paar isolierte Aussagen im Rahmen einer lebhaften Diskussion zu akzeptieren seien. Der Gerichtshof befand hierzu, dass bloß weil andere im Rahmen des Seminars getroffene Aussagen von der Meinungsfreiheit gedeckt waren, dies die inkriminierten Äußerungen nicht deshalb akzeptabel machte.

Schließlich kann die strafrechtliche Sanktion nicht als unverhältnismäßig angesehen werden, da Frau zu einer geringen Geldstrafe verurteilt wurde und diese Strafe am unteren Ende des Strafrahmens angesiedelt war. Unter diesen Umständen und angesichts der Tatsache, dass Frau S. aufgrund mehrerer Aussagen verurteilt worden war, vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass die österreichischen Gerichte mit der Verurteilung von Frau S. wegen der Herabwürdigung religiöser Lehren ihren im vorliegenden Fall weiten Beurteilungsspielraum nicht überschritten hatten. Es lag mithin keine Verletzung von Artikel 10 vor.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde von den Mitgliedstaaten des Europarates 1959 in Straßburg errichtet, um sich mit behaupteten Verletzungen der im Jahre 1950 verabschiedeten Europäischen Menschenrechtskonvention zu befassen.

 

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